Du lernst für dich und nicht für andere
Es sind wohl viele, die den Satz dieses Titels in dieser oder anderer Form gehört haben. Mir kam es aber immer so vor, als würde ich (vieles) für andere lernen. Darauf schien ich selbst keine Lust zu haben und den anderen gelang das irgendwie gut oder besser. Wenn ich von meinen Schulerfahrungen schreibe oder spreche, dann erkennen sich viele Menschen darin wieder. Deshalb dient ein Teil meiner Biografie hier wieder als Einleitung.
Wie wir unsere ersten Lebensjahre verbringen
Im Moment kann ich bei meiner Nichte sehr gut beobachten, wie sie jeden Tag dazu lernt. Sie probiert aus, sie fällt hin, sie weint, sie lacht, sie steht auf, fällt hin, steht auf, fällt hin, steht auf, … . Sie beobachtet und lernt dabei, sie beobachtet und kopiert. Sie ist klein und sie darf Kind sein. Sie darf einfach Mensch sein. Sie darf Fehler machen und wir lachen mit ihr, wenn sie manchmal noch kindlich unbeholfen und tapsig «Fehler» macht. Wir schauen ihr zu, bei ihren vielleicht manchmal Hunderten Versuchen und wir freuen uns mit ihr und für sie, wenn etwas Neues gelingt. Wenn sie aufsteht, wenn sie die ersten paar Schritte macht und es ist voll o.k. wenn sie sich dann wieder hinsetzt, wenn sie hinfällt und wenn sie weint. Wir sind dann da, freuen uns mit, fühlen mit und trösten.
Lernen ist das Natürlichste auf der Welt. Ich lerne mir ihr und von ihr.
Meine ersten fünf Lebensjahre verbrachte ich in einem sehr lebendigen Umfeld zwischen Bauernhöfen (Kühen, Traktoren, beim Mähen) …, der Gemeindeverwaltung (mein Grossvater war nebenberuflich Gemeindeschreiber, meine Grossmutter arbeitete auch mit und das im selben Haus, in dem wir wohnten) und mein Vater arbeitete im Krankenhaus, später im Aussendienst mit dem Büro in unserer Wohnung. Ich war also umgeben von Menschen, die irgendwie voll am Puls des Lebens arbeiteten. Ich hatte die wunderbare Möglichkeit, so viel zu beobachten, zu hören und zu erleben. Was für ein Geschenk.
Dann kommt die Schulzeit
Hier möchte ich gar nicht zu stark darauf eingehen. In verschiedenen anderen Beiträgen in diesem Blog finden sich Erlebnisse und Gedanken dazu. Jede und jeder hat hier seine eigenen guten oder schlechten Erfahrungen gemacht. Zu dem, was vorher war, ist m. E. hier aber ein grosser Bruch. Ich wollte nach neun Schuljahren und einem zehnten Schuljahr auf jeden Fall nie wieder etwas mit Schule (Lernen, Lehrer:innen, …) zu tun haben. Lange Zeit hatte ich das Gefühl, dieses Lernen müsste doch anders gehen. Es müsste doch möglich sein, den Interessen zu folgen. Es müsste doch möglich sein, draussen zu lernen, sich zu bewegen, … .
Ein Sprung in die Gegenwart
Heute weiss ich, dass es dieses Lernen, wie ich es mir gewünscht hätte, gibt. Es war immer da. Heute spricht man auch von agilem Lernen oder von New Learning. Eigentlich ist vieles gar nicht so neu, aber es scheint uns wie eine Innovation, wie eine vielversprechende Neuheit, weil wir vergessen haben, wie Arbeiten und Lernen einmal ganz natürlich und normal ineinanderflossen.
Im Leben lernen
Ich war damals (als Schüler) der Meinung (auch, wenn ich es nie so hätte ausdrücken können), wir lernen am besten im echten Leben. Arbeitszeit? Freizeit? Schulzeit? Auszeit? Lebenszeit! Lernzeit. Ja, wir finden überall Lerngelegenheiten. Heute weiss ich, Lernen ist Leben und Leben ist Lernen. Heute habe ich die Möglichkeit, Möglichkeiten und Bewusstsein dafür zu schaffen.
Aber!
Aber das ist komplizierter. Möchtest du von einem Chirurgen operiert werden, der das selbst gelernt hat? Möchtest du von einem Piloten geflogen werden, der das selbst gelernt hat? Aber! Der Arbeitsmarkt verlangt nach Schulnoten, Abschlüssen, nach Zertifikaten etc. Es geht gar nicht darum, Ausbildungssysteme und Trainings abzuwerten oder als nicht hilfreich darzustellen. Denn ganz richtig und ganz falsch gibt es kaum.
Bevor es weitergeht, möchte ich eine kleine Geschichte erzählen:
Vor vielen Jahren, während Ferien in Griechenland, machten wir einen Ausflug mit einem Segelschiff. Unser Kapitän war ein etwa 30-jähriger Grieche. Seine Ausbildung, aus meiner Sicht eine der besten, die man haben kann. Alles, was er wusste und konnte, hatte er über die Jahre von seinem Grossvater und Vater gelernt und selber erlebt. Er hatte Freude am Meer, vielleicht liebte er es sogar. Es war etwas, das er gerne tat – ja vielleicht eine Berufung. Was er gelernt hatte, lernte er durch Erleben, Erfahrung und Begeisterung. Das Lernumfeld waren keine geschlossenen Räume, in denen man still sitzen und zuhören musste – es war eben ein Ort zum Erleben.
Wenn ich selbst einen Coach auswähle, dann orientiere ich mich an folgender Metapher, die mir einmal in den Sinn kam, als ich den Wert von Praxiserfahrung teilen wollte.
Wenn ich irgendwo in der Wildnis ausgesetzt würde und ich könnte zwischen zwei Guides auswählen. Einer davon hätte hunderte Bücher über Überlebenstechniken, die Natur, Tiere etc. gelesen und der andere hätte sich selbst bereits durch die Wildnis gekämpft, würde ich mich immer für den Zweiten entscheiden.
Heute würde ich wohl ergänzen, dass dieser zweite Guide im Idealfall noch das eine oder andere Buch zur Vertiefung oder Ergänzung gelesen hat.
Es geht nämlich nicht darum, keine Bücher zu lesen. Es geht nicht darum, keine Lehrerinnen oder Lehrer zu haben. Menschen, die Erfahrung oder Theoriewissen haben, sind nichts Schlechtes. Es geht vielmehr darum, die Freiheit zu haben, sich das Wissen und die Informationen dann zu holen, wenn man dazu bereit ist. Es geht darum, lernen zu können, währenddem man lebt und zu leben währenddem man lernt.
Lernen lernen
Wie können wir dieses Lernen (wieder) lernen. Viel von diesem Lernen hätten wir eigentlich bereits in uns. Unser Hirn ist bereit und die Neugier ist da. Die Lust oder die Liebe am Lernen (wieder) zu entdecken heisst vielleicht, sich mit den eigenen Prägungen auseinanderzusetzen. Es könnte bedeuten, das Lernen mit anderen Augen zu sehen. Es wird heissen, Fehler zu machen, die eigene (erlernte) Einstellung zu Fehlern und Scheitern zu hinterfragen. Man kann oder muss akzeptieren, mit dem Lernen nie wirklich fertig zu sein.
Das gilt auch für Menschen, die viele Aus- und Weiterbildungen gemacht haben. Denn auch für sie ist es wichtig und wird zunehmend wichtig sein, das Lernen und die Arbeit zu verbinden. Das ist lebenslanges Lernen oder lebensbegleitendes Lernen. Alles andere ist v. a. Zertifikate sammeln.
Lernen während er Arbeit?
Aber! Natürlich gibt es auch hier wieder etliche Einwände. Es könnte ausgenutzt werden, wenn man den Menschen zu viel Raum lässt. Lernen kann als unproduktive Zeit gesehen werden, in der eigentlich «gearbeitet» werden könnte. Vielleicht kommen dir hier noch andere Einwände in den Sinn.
Zum Glück merken immer mehr Unternehmen, wie wichtig es ist, ihre Mitarbeitenden zu befähigen und zu ermutigen, während der Arbeit zu lernen. In einer Welt, die sich so schnell verändert, wird sich das für Mitarbeitende und für Unternehmen auszahlen.