Irgendwie ist da noch mehr

Und dann denke ich, irgendwie angekommen zu sein, fühle mich aber alles andere als das. Es wird Zeit, mein Tagebuch hier in dieser Form zu schliessen und wieder aufs Papier zu bringen. Es gibt noch so viel anderes, dass hier geschrieben werden kann. Bevor ich das tue, schaue ich doch noch einmal, wo ich stehe oder wanke. Im letzten Blog habe ich geschrieben, dass ich angekommen bin wie noch nie. Das mag wohl stimmen und muss rational gesehen so sein. Ich war dem, was ich will und bin, vermutlich noch nie so nahe. Wobei es bei vermutlich bleibt. Ich kann es schlichtweg nicht sagen. Es ist nur dieses, wie so oft leise, aber starke Gefühl. Ich möchte hier gerne eine Geschichte teilen, die ich aber leider nicht mehr finde. Es geht um einen Mann, der dem Glück oder der Lösung hinterherrennt und rennt und rennt und .. na, ihr wisst schon. Irgendwann kann er nicht mehr und er setzt sich auf einen Stein. Kurz darauf nähert sich die Lösung (oder das Glück) und sagt: Endlich hat du angehalten. Ich renne dir schon die ganze Zeit hinterher. Und da kommt mir gleich noch eine andere Geschichte in den Sinn und warte … Vielleicht finde ich sie.

Oh, da ist sie 😀. Im Buch der Trauer von Jorge Bucay.

Es war einmal ein Mann, der einen Berg bestieg. Es war ein ziemlich anspruchsvoller Aufstieg, insbesondere, nachdem es zuvor heftig geschneit hatte. Er hatte die Nacht in einem Biwak verbracht, und am Morgen waren die Berge von Schnee bedeckt, was den Aufstieg sehr erschwerte. Aber er hatte nicht umkehren wollen, und so kletterte er immer weiter und weiter, um diesen steilen Berg zu erklimmen. Bis er irgendwann, vielleicht weil er sich verschätzt hatte, vielleicht weil die Situation wirklich schwierig war, einen Haken einschlagen wollte, um seine Sicherungsleine einzuhaken, und sich der Karabiner löste. Der Bergsteiger verlor das Gleichgewicht und stürzte ab, wobei er inmitten einer Schneelawine immer wieder heftig gegen den Fels schlug. Sein ganzes Leben zog an ihm vorüber, doch als er schon die Augen schloss und auf das Ende wartete, spürte er, wie ihm ein Seil ins Gesicht schlug. Ohne lange nachzudenken, griff er instinktiv danach. Vielleicht war das Seil an einem Sicherungshaken hängen geblieben… wenn es so war, konnte es sein, dass es den Schlag aushielt und seinen Fall bremste. Er schaute nach oben, aber da war nichts als Sturm und wirbelnder Schnee. Während dieses schier endlosen, rasend schnellen Falls schien jede Sekunde zu einem Jahrhundert zu werden. Plötzlich gab es einen heftigen Ruck, und das Seil straffte sich. Der Bergsteiger konnte nichts sehen, aber er wusste, dass er fürs Erste gerettet war, Er hing inmitten dieses Schneetreibens in eisiger Kälte an seinem Seil, aber da war dieses Stück Hanf, das verhindert hatte, dass er am Fuß der Steilwand zerschellte. Er versuchte, sich umzuschauen, aber es war unmöglich. Man konnte nichts erkennen. Er rief zwei-, dreimal, doch dann wurde ihm klar, dass ihn niemand hören konnte. Seine Chance, gerettet zu werden, war verschwindend gering, selbst wenn er vermisst würde, konnte man die Suche nach ihm erst aufnehmen, wenn der Schneesturm aufhörte, und auch dann wusste keiner, dass der Bergsteiger irgendwo über dem Abgrund baumelte. Wenn er nicht bald etwas unternahm, war sein Leben hier zu Ende. Was sollte er tun? Er überlegte, an dem Seil nach oben zu klettern und zu versuchen, das Biwak zu erreichen, doch schon bald erkannte er, dass das unmöglich war. Plötzlich hörte er die Stimme. Die Stimme kam aus seinem Inneren, und sie sagte: „Lass los“. Vielleicht war es die Stimme Gottes, vielleicht die Stimme seiner inneren Weisheit, vielleicht die eines bösen Geistes, vielleicht eine Halluzination… Und er hörte, wie die Stimme immer wieder sagte: Lass los, lass los… Er überlegte, dass Loslassen den sofortigen Tod bedeuten würde. Es war eine Möglichkeit, das Martyrium zu beenden. Er dachte über die verlockende Aussicht nach, den Tod zu wählen, um dem Leiden ein Ende zu machen. Und als Antwort wurde die Stimme noch lauter. Und die Stimme drängte: „Lass los, dann musst du nicht länger leiden. Diese Quälerei ist vergebens. lass los.“ Doch er klammerte sich noch stärker fest, während er sich selbst einschärfte, dass keine Stimme der Welt ihn dazu bringen würde, das Seil loszulassen, das ihm ganz offensichtlich das Leben gerettet hatte. Der Kampf ging über Stunden, aber der Bergsteiger klammerte sich fest an das Seil, von dem er dachte, es sei seine einzige Chance. Am nächsten Morgen fand die Rettungsmannschaft den Bergsteiger halbtot. Es war kaum noch Leben in ihm. Noch ein paar Minuten länger, und der Bergsteiger wäre erfroren, während er paradoxerweise sein Seil umklammerte … keinen Meter über dem Boden hängend. Jorge Bucay, Das Buch der Trauer. Wege aus Schmerz und Verlust, S. Fischer Verlag,2015, S. 55-57.

Das könnte also heissen, dass ich mich einfach einmal hinsetzen könnte und andere Dinge tun, als mich mit meiner (beruflichen) Zukunft auseinanderzusetzen. Nun frage ich mich gerade, woher das eigentlich kommt. Eigentlich war ich ja in dem, was ich tat und somit auch in meinem Sein immer falsch. Natürlich ist das Wort immer nicht zutreffend und doch fühlt es sich so an. Hätte ich mich verhalten, wie sie es von mir gewünscht hätten, dann wäre ich heute vielleicht o.k. Vielleicht wäre ich auch dem Weg des allgemeinen Erfolgs gefolgt, hätte einen guten (💰) Job, einen Titel, einen linearen Lebenslauf und ich denke daran wie schön das sein könnte.

Ich war also immer falsch. Mehr Konzentration, disziplinierter Lernen, gesellig sein, wenns gefragt ist und still, wenn Ruhe angebracht ist. Wenn du in der Schule das tust, was von dir gefragt ist, dann bist du frei und wenn nicht, dann… Fuck. Die Vergangenheit lässt sich nicht mehr ändern, aber vielleicht verstehen. Dann wurde ich so richtig krank. Ich meine, die Geschichte mit der Esserei ist rückblickend gar nicht so überraschend. Denn da erinnere ich mich an Skilager (ach, wie habe ich alle Lager gehasst!) In denen ich jeweils eine Woche praktisch nichts gegessen habe. Also war die spätere Essstörung eigentlich nur eine Steigerung davon. Gut, dazu kam dann diese verdammte Angst. Ach, wie habe ich sie gehasst. Was ich eigentlich sagen will: In dieser Zeit war ich immer ICH-Fokussiert. Zuerst lagen alle Augen auf mir und dann drehte sich meine eigene Wahrnehmung irgendwann um mich und vor allem um meine Fehler. Das tut sie irgendwie heute noch. Seit ich meine berufliche Grundbildung 2008 abgeschlossen habe, suchte ich immer nach Möglichkeiten, meinen Weg zu gehen (wobei ich nie ein Endziel hatte). Es musste also immer vorwärtsgehen, ich war nie genug und konnte nie genug. Wo stehe ich heute? Irgendwo im Nirgendwo. So kommt es mir zumindest oft vor. Es klingt wahrscheinlich enorm überheblich, wenn ich sage, dass ich vieles kann und mich schnell irgendwo einfinde. Wenn ich aber so auf meinen Lebenslauf schaue, dann ist es genau das. Jeder Job, den ich hatte, war in einer anderen Branche und in einem anderen Tätigkeitsfeld. Es musste immer weitergehen. Zeitgleich «musste» ich mich meinen Ängsten stellen, wenn ich in dieser Welt überleben wollte. Trainiert wie ein Hochleistungssportler oder ein Elitesoldat habe ich. So lässt sich das am besten beschreiben. Jeden Tag. Immer und immer wieder. Ich glaube, bei den Navy Seals heisst es «Never ring the bell». Also nicht aufgeben. In den letzten Wochen und heute möchte ein Teil von mir die Glocke läuten. Aber was würde das bedeuten? Wahrscheinlich zurück in den ganz normalen Arbeitsmarkt, der immer noch geprägt ist von Organisationen und Menschen, die Rollen einnehmen, die sie eigentlich gar nicht möchten und sie nicht zufrieden machen. Irgendwie sind sie nichts anderes als Schüler*innen in Körpern von Erwachsenen, die nie etwas anderes gelernt haben, als genau diesen Weg zu gehen. Klar, einige haben gefunden, was sie gerne tun.

Will ich das?

Ich will Ruhe oder zumindest wieder etwas Alltag.

Im Buch der Corporate Rebels steht irgendwo ein Zitat von (ich habe gerade keine Lust, die Urheberin zu suchen): So wie wir unsere Tage verbringen, so verbringen wir unser Leben. Dieses Zitat trifft den Nagel auf den Kopf. Arbeitszeit ist auch Lebenszeit. Also will ich mein Leben nicht wie eine Kuh im Stall oder auf der Weide verbringen. Viel eher wie ein Bär, wie ein Adler, Wolf oder wie ein Pinguin (nicht die im Zoo). Einige Pinguine sind vom Aussterben bedroht, weil das Klima für sie nicht stimmt. Dieses Klima wurde oder wird wahrscheinlich vom Menschen und der Gier mitbeeinflusst. Irgendwie sehe ich da Parallelen zu meinem Platz in der Arbeitswelt. Warum ich gerade auf Pinguine komme, liest oder hörst du in dieser Geschichte.

Die Pinguin Geschichte von Eckhart von Hirschhausen auf Youtube.

Die Pinguin Geschichte

Diese Geschichte ist mir tatsächlich passiert. Ich war als Moderator auf einem Kreuzfahrtschiff engagiert. Da denkt jeder: „Mensch toll! Luxus!” Das dachte ich auch. Bis ich auf dem Schiff war. Was das Publikum angeht, war ich auf dem falschen Dampfer. Die Gäste an Bord hatten sicher einen Sinn für Humor, ich hab ihn nur in den zwei Wochen nicht gefunden. Und noch schlimmer: Seekrankheit hat keinen Respekt vor der Approbation. Kurzum: ich war auf der Kreuzfahrt kreuzunglücklich.

Endlich! Nach drei Tagen auf See, fester Boden. „Das ist wahrer Luxus!” Ich ging in einen norwegischen Zoo. Und dort sah ich einen Pinguin auf seinem Felsen stehen. Ich hatte Mitleid: „Musst du auch Smoking tragen? Wo ist eigentlich deine Taille? Und vor allem: hat Gott bei dir die Knie vergessen?” Mein Urteil stand fest: Fehlkonstruktion.

Dann sah ich noch einmal durch eine Glasscheibe in das Schwimmbecken der Pinguine. Und da sprang „mein“ Pinguin ins Wasser, schwamm dicht vor mein Gesicht. Wer je Pinguine unter Wasser gesehen hat, dem fällt nix mehr ein. Er war in seinem Element! Ein Pinguin ist zehnmal windschnittiger als ein Porsche! Mit einem Liter Sprit käme der umgerechnet über 2500 km weit! Sie sind hervorragende Schwimmer, Jäger, Wasser-Tänzer! Und ich dachte: „Fehlkonstruktion!”
Diese Begegnung hat mich zwei Dinge gelehrt. Erstens: wie schnell ich oft urteile, und wie ich damit komplett daneben liegen kann. Und zweitens: wie wichtig das Umfeld ist, ob das, was man gut kann, überhaupt zum Tragen kommt.

Wir alle haben unsere Stärken, haben unsere Schwächen. Viele strengen sich ewig an, Macken auszubügeln. Verbessert man seine Schwächen, wird man maximal mittelmäßig. Stärkt man seine Stärken, wird man einzigartig. Und wer nicht so ist, wie die anderen sei getrost: Andere gibt es schon genug! Immer wieder werde ich gefragt, warum ich das Krankenhaus gegen die Bühne getauscht habe. Meine Stärke und meine Macke ist die Kreativität. Das heißt, nicht alles nach Plan zu machen, zu improvisieren, Dinge immer wieder unerwartet neu zusammen zu fügen. Das ist im Krankenhaus ungünstig. Und ich liebe es, frei zu formulieren, zu dichten, mit Sprache zu spielen. Das ist bei Arztbriefen und Rezepten auch ungünstig. Auf der Bühne nutze ich viel mehr von dem was ich bin, weiß, kann und zu geben habe. Ich habe mehr Spaß, und andere haben mit mir mehr Spaß. Live bin ich in meinem Element, in Flow!

Menschen ändern sich nur selten komplett und grundsätzlich. Wenn du als Pinguin geboren wurdest, machen auch sieben Jahre Psychotherapie aus dir keine Giraffe. Also nicht lange hadern: Bleib als Pinguin nicht in der Steppe. Mach kleine Schritte und finde dein Wasser. Und dann: Spring! Und Schwimm!
Und du wirst wissen, wie es ist, in Deinem Element zu sein. Dr. Eckhart von Hirschhausen

Es ist nicht diese eine Stärke, die ich einsetzen will und nicht dieses eine Ding, welches das Richtige für mich ist. Es gibt Unternehmen, Organisationen, Gruppen und Tätigkeiten, bei denen ich mich im Element fühlen kann. Dort möchte ich hin. Es gab schon Momente, da war ich dort und dann kam der «Klimawandel».

Die Frage ist noch offen, warum ich so «unter Druck» stehe (vielleicht sind auch noch andere Fragen offen, aber egal.) Ich habe heute noch einen Test zu den Antreibern (Transaktionsanalyse) gemacht und bin bei «Streng dich an» gelandet. Also nur mit Druck und Anstrengung kann ich es auch erreichen. Lasse ich los, lehne ich mich zurück oder vertraue, dann gehts den Bach runter. So in etwas sieht der Antreiber das.

Vielleicht lohnt es sich nun, meiner «Expertise» in meinem Leben etwas mehr Platz zu geben und Dingen, die nichts mir Arbeit, Optimierung, Wachstum, Entwicklung … zu tun haben. Das kenne ich zwar kaum, kann mir aber vorstellen, dass das auch schön sein kann. Die Einblicke in meine Krisen, meine Vergangenheit, das Auf- und Ab werden ab hier weniger. Wie gefährlich könnte es sein, nicht loszulassen..

«Noch ein paar Minuten länger, und der Bergsteiger wäre erfroren, während er paradoxerweise sein Seil umklammerte … keinen Meter über dem Boden hängend.»


Foto: Ben Zaugg, in Lutry