Erfahrung ist für mich die höchste Autorität
Die psychische Gesundheit und die Entstigmatisierung von psychischen Krankheiten sind mir ein grosses Anliegen. Natürlich ist auch das durch meine Biografie geprägt. Nicht nur durch meine ganz persönlichen Erfahrungen, sondern auch durch die Biografien von anderen Menschen mit denen ich in meinem Leben zu tun hatte, auf die ich aber nicht detaillierter eingehe.
Neben den direkt betroffenen, also erkrankten Personen sind da auch Menschen rund herum, die auch irgendwie betroffen sind. Es sind Väter, Kinder, Schwestern, Nachbarn, Arbeitskolleginnen, … . Ich schreibe also im Folgenden über Bücher und Theorien aus der Sicht eines direkt betroffenen, weiss aber aus eigener Erfahrung auch, dass es als indirekt betroffener genau so helfen kann. Bereits hier will ich ausdrücklich darauf hinweisen, dass es sich lohnt, in schwierigen Situationen professionelle Hilfe zu holen und es ganz viele verschiedene Anlaufstellen und Kontaktmöglichkeiten gibt. Ein paar Adressen und Nummern folgen am Ende dieses Beitrages.
Für mich war die Selbsterfahrung und die Arbeit mit Büchern, in Kombination mit professioneller Hilfe der passende Weg. Mein Weg zurück zu einem Leben, in dem ich mich wohlfühle, dauerte Jahre, auch wenn das in der Zusammenfassung vielleicht anders wirken kann. Es ist auch so, dass sich die eine oder andere Theorie in gewissen Punkten widerspricht und genau dort habe ich oft auch meine «Lösungen» gefunden..
Währen meiner Lehrzeit entwickelte ich langsam und schleichend eine Angst vor Situationen mit anderen Menschen (diese Tendanz war aber schon länger da). Diese zeigte sich u. a. darin, dass ich in Gruppen nicht mehr essen konnte, respektive typische Angstsymptome (schwitzen, Fluchtimpuls, etc.) entwickelte und oft erbrechen musste oder zumindest das Gefühl hatte, ich müsste (jemand hat mich einma einen «Kotzprofi» genannt). Der Stress war so gross, dass ich oft auch zuhause nicht mehr oder kaum essen konnte, irgendwann wog ich noch 55kg, tenzend immer noch abnehmend. Medizinische Abklärungen u. a. eine Magenspiegelung ergaben nichts. Also ging ich ein weiteres Mal zu einem Psychiater, welcher halt einfach ein Psychiater war, wie ich sie kannte, und das funktionierte nicht. Ich hatte das Glück (das kann ich im Nachhinein mit Sicherheit sagen), dass ich einen Coach fand, zu dem ich bereits Vertrauen hatte und der mit mir arbeiten wollte. Diese Arbeit basierte auf der Salutogenese (Gem. Duden: Modell (nach A. Antonovsky), das im Gegensatz zum in der Medizin vorherrschenden Modell der [Pathogenese] die Entstehung von Gesundheit erklärt) sowie der Rational Emotiven Verhaltenstherapie (REVT). Die REVT war für mich immer etwas hart. Wie der Name schon sagt, geht es darum, die Dinge aus rationaler Sicht zu sehen. Heute bin ich nur bedingt ein Fan von dieser Theorie, bin aber für diese Perspektive und die Arbeit damit äusserst dankbar. Es hat mir sehr geholfen, meine Perspektive vor, in und nach (ganz) schwierigen Situationen zu wechseln und so in einen entspannte(re)n Lebensmodus zu wechseln. Natürlich gelang mir das nur mit harter und regelmässiger Arbeit und dem Übernehmen von Verantwortung über mein Leben.
«Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern die Vorstellungen und Meinungen von den Dingen.» Epiktet
Irgendwann (und ab jetzt ist die Reihenfolge fliessend), empfahl mir mein Coach Bücher wie: «Wer dem Glück hinterherrennt, rennt daran vorbei» von Russ Harris oder «Wenn du willst was du noch nie gehabt hast, dann tu was du noch nie getan hast.» von Nossrat Peseschkian. Die Bücher von Peseschkian fand und finde ich bereichernd und schön, da sie so viele Geschichten beinhalten und durch die «andere» kulturelle Perspektive ganz neue (Denk-)Felder für mich eröffnet haben. Peseschkian war Begründer der positiven Psychotherapie. Was mich aber wirklich berührt hat, war das Buch von Russ Harris und mit und über die Akzeptanz- und Commitmenttherapie. Irgendwie war es das, was ich schon immer gesucht hatte und etwas, dass mir wirklich half. Es geht dabei um die Selbst(er)kenntnis, um das Akzeptieren und sehr wichtig um das wertorientierte Handeln. Mit diesem Buch habe ich immer und lange gearbeitet (lesen reicht nicht!). In den folgenden Jahren habe ich das immer wieder genutzt und mich intensiv mit dieser Form der Therapie und deren Hintergründe auseinandergesetzt. Dazu gehört für mich übrigens auch die Sinntheorie von Frankl.
«Psychological flexibility is the ability to adapt to a situation with awareness, openness, and focus and to take effective action, guided by your values.» Russ Harris
Passend dazu ist auch der MBSR-Kurs, den ich irgendwann besucht habe. Dieser gehört zwar nicht konkret zu diesem Konzept, hilft aber gerade beim «im Moment sein» sowie beim Erlernen der Akzeptanz sehr.
«Erlaube dir selbst, den jetzigen Moment, genauso wie er ist, anzunehmen. Erlaube dir selbst, genauso wie du bist, zu sein.» Jon Kabat-Zinn
Bereits in dieser Zeit habe ich eine Coaching-Weiterbildung besucht, bei der es um die Individualpsychologie ging, dort aber kaum Theorie vermittelt wurde. Vielmehr wurde auf die Auseinandersetzung mit sich, der Gruppe und die Selbsterfahrung gesetzt. Das war sicher auch ein Schlüsselmoment. Auch mit der Individualpsychologie konnte ich mich nur bedingt anfreunden. Ich finde diese aber, wie alle anderen genannten Theorien äusserst Hilfreich für das Einnehmen von verschiedenen Perspektiven und ich ziehe für mich das heraus, das hilft.
Immer noch auf dem Weg der Genesung oder in die Freiheit (das Wort Freiheit mag ich lieber), besuchte ich die Ausbildung zum Genusstrainer in Deutschland. Das hiess, dass ich immer noch Schwierigkeiten hatte, in Gesellschaft zu essen, schnell sonstige Stresssymptome auftauchten und ich immer wieder mit dem Stress und der Angst unterwegs war. Ich habe dort Begegnungen mit vielen Fachpersonen aus dem Gesundheitswesen gemacht, war auf Augenhöhe, wurde ernst genommen und es war o. k. so zu sein, wie ich bin. Ich sass am Flughafen, habe geweint, weil ich das geschafft hatte und mir noch ein paar Gedanken auf meinem iPad notiert.
Das ist der noch nie geteilte Originaltext vom 10. Mai 2015, 17.50 Uhr, geschrieben in einer Abflughalle, irgendwo in Deutschland.
Verlassen der Komfortzone
Was passiert, wenn ich meine Komfortzone verlasse? Ich komme in eine Stresssituation. Je nach Situation dauert meine Stressreaktion länger oder weniger lang.
Mein konditioniertes Muster der Angst, der Unsicherheit, dem Drang besser, perfekter sein zu müssen.. meine Angst zu fest aufzufallen.. meine Gedanken nicht essen zu können.. mein Körper verkrampft sich, mein Kopf schmerzt, ich schwitze.. ich habe Angst, mir ist nicht wohl, ich habe keinen Appetit, meine ganzen Gedanken sind bei mir und drehen sich im Kreis.. all diese Dinge tauchen dann auf. Sie sind extrem unangenehm, ich möchte mich verstecken, zurückziehen, anders sein, eine andere Vergangenheit haben oder die Zukunft steuern können. Ich versuche mich etwas zurückzuziehen, nicht aufzufallen nicht zu existiereen oder auf jedenfall nicht hier.
Doch ich bin nicht so, wie ich mich denke, ich bin nicht einmal der, der ich denke zu sein. Nein, ich bin ich. Ich treffe auf wunderbare Menschen, die ich nie vorher gesehen habe, die meisten wahrscheinlich nicht mehr sehe. Wir gehen zusammen essen, wir schauen uns die stadt an, wir werden eine kleine Gemeinschaft an einem mehr oder weniger fremden Ort, einige Bekanntschaften werden tiefer die anderen weniger. Aber es sind Begegnungen, Begegnungen die mein Herz berühren, Begegnungen die mir hier am Flughafen Tränen in die Augen drücken. Begegnungen die mein Herz gestreift oder richtig berührt haben. Die Liebe dieser Menschen hat mich getroffen. Ich bin getroffen, mitten im Herz. Ich sehe, dass ich ok bin, wie ich bin und ich fühle es.
Es lohnt sich so sehr seine eigene Komfortzone zu verlassen, Ängste zu haben, etwas zu leiden, durchzuhalten.. Rückschläge zu erleiden und immer wieder aufzustehen. Dann kann ich frei sein, glücklich sein, mich entwickeln und leben.
Es sollte noch dauern, bis ich mich frei fühlte und es wird immer ein Teil von mir bleiben. Heute ist dieser Teil meistens leise und dezent, aber er bleibt. Als ich mich damit angefreundet habe, ja, tief akzeptiert habe, löste sich vieles. Heute bin ich der Überzeugung, dass es die REVT, die Individualpsychologie, die ACT, der MBSR-Kurs, das Genusstraining, die Kombination daraus sowie die Widersprüche waren, die mich hierher führten und natürlich die dazugehörigen Menschen.
Aus meiner Sicht ist es nicht zielführend an einer Theorie festzuhalten sondern verschiedenen Perspektiven einzunehmen, unterschiedliche Wege zu versuchen und auch zu gehen. Was für mich am Ende entscheidend war ist, dass ich immer wieder neu angefangen habe und nicht trotz sondern mit der Angst, dem Stress und allen Symptomen weitergegangen bin. Auch dann, als ich viel lieber aufgeben wollte. Ähnliche Beobachtungen habe ich bei anderen Menschen gemacht. So oder so, jeder Weg ist Individuell und eine Herausforderung.
Eine Auswahl an Büchern, die mich in diesen Jahren begleitet haben.
Individualpsychologie
Menschenkenntis, Alfred Adler
REVT
Vernunft und Emotion, Dieter Schwarz
Geschichten & positive Psychologie
Der Kaufmann und der Papagei, Nossrat Peseschkian
Wenn du willst, was du noch nie gehabt hast, dann tu was du noch nie getan hast, Nossrat Peseschkian
Akzeptanz- und Commitmenttherapie
Wer dem Glück hinterherrennt, läuft daran vorbei, Russ Harris
Der Weg zu echtem Selbstvertrauen, Russ Harris
ACT für Expert*innen und ein tieferes Verständnis
ACT leicht gemacht, Russ Harris
Methaphern in der Akzeptanz- und Commitmenttherapie, Norbert Lotz
MBSR
Gesund durch Meditation, Jon Kabat-Zinn
Im Alltag Ruhe finden, Jon Kabat-Zinn
Einige Adressen:
https://www.berner-buendnis-depression.ch/
http://www.recoverycollegebern.ch/