Von der Kunst, die Balance zu finden

Viele Bälle gleichzeitig in der Luft

«Es gibt eine Richtung, aber es gibt kein Ziel.»

Carl R. Rogers

Diesen Beitrag habe ich schon vor ein paar Tagen angefangen und nun ist nur der Titel geblieben. Ich habe oder hätte über die vielen offenen Projekte wie die Pilzfarm, über Colearning Bern, vom Aufbau von colearning.org geschrieben. Die diversen Podcast-Projekte 24 Stunden, entwicklungsfreiraum, ZUKUNFTSHELDEN und die neuen offenen Projekte hätte ich gar nicht genannt, weils doch keine Arbeit ist oder nicht so scheint. Ich hätte über die Überforderung geschrieben, den fehlenden Fokus und darüber, dass ich ja immer noch an meiner beruflichen Zukunft arbeite. Also am Auf-/Ausbau der Selbständigkeit. Es ist vielleicht das, was mir am meisten zu schaffen macht, da es ja schliesslich mein Einkommen sichert. Weil ich aber mittlerweile weiss, welche Bälle ich weitergeben kann, welche ich ablege und womit ich weiter jonglieren werde, schreibe ich darüber, wie es dazu kam.

Plötzlich sind da immer mehr Bälle

Mein Kopf ist voller Ideen, Visionen und Möglichkeiten, wie wir die Zukunft anders, besser und vor allem menschlicher gestalten könn(t)en. Nicht nur die Zukunft, sondern auch die Gegenwart. Rund um den Effinger und das Colearning gibt es noch mehr ähnliche und andere Ideen und Pläne. So war ich in immer mehr Themen drin. Auf welchen Ball oder auf welche Bälle sollte ich mich nun fokussieren. Irgendwie müsste das doch möglich sein, mich um alle zu kümmern. Nicht?

Freude und Überforderung

Und dann verlor ich mich.

Es sind also etliche Themen, die mir Freude machen und von denen ich weiss, dass es wichtige Beiträge für eine bessere und humanere Zukunft sind. Je mehr Bälle ich da in den Händen halten wollte (und meinte ich sollte), umso weniger Spass hatte ich an den einzelnen. Der Spass wurde langsam von Frust und anderen schwierigen Gedanken und Gefühlen verdrängt. Ich realisierte, dass ich kaum noch klare Gedanken fassen konnte, geschweige denn aktiv an meiner (beruflichen) Zukunft zu arbeiten. Aber was sollte ich nun machen?

«Das Leben ist kein zu lösendes Problem, sondern eine zu erlebende Realität.»

Søren Kierkegaard

Warum loslassen, wenn es Freude macht?

Ja, aber warum sollte ich etwas von dem loslassen, wenn es doch so Freude macht. Ich will selbstständig sein? Unternehmer? Na, dann sollte das ja auch kein Problem sein, so viele Bälle zu jonglieren. Wenn ich also bessere Wochen-, Tagespläne, Pendenzenlisten machen würde, wenn mehr Klarheit in die Projekte käme, dann, ja dann wirds schon gehen. Da gäbe es ja etliche Möglichkeiten, wie man priorisieren kann. Zum Beispiel das Eisenhower-Prinzip, wobei mir das nicht zusagt und was kommt denn wo hin? Eine Woche vor meinen Ferien wurde ich also krank und dann noch eine Woche und noch eine Woche, bis ich realisierte, dass man (ich) so ja nicht gesund werden kann, wenn das ganze System (Körper und Psyche) überlastet sind. Da nützen auch Tee, Vitamine, im Bett liegen, Meditation etc. nicht mehr viel.

«Wer viele Schätze anhäuft, hat viel zu verlieren.»

Lao-Tse

In Verbindung mit materiellen “Schätzen” mag das wohl stimmen. Wie ist es aber mit Menschen und eben solchen Projekten. Kann man sie verlieren oder tut es diesen vielleicht auch gut, wenn sich Dinge wandeln, Menschen Rollen abgeben?

Biografisches

Natürlich frage ich mich dann, welchen biografischen Anteile da eine Rolle spielen. Nicht weil ich finde, dass dort immer alles zu finden ist oder dort nach Ausreden suche. Es ist einfach spannend, diese Muster zu (er)kennen und dann etwas damit zu machen. Klar ist, dass ich vieles in meinem Erleben während meiner Schulzeit verorte. Ich bilde mir in solchen Überforderungen ein, dass, wenn ich ein Studium abgeschlossen hätte, diese Probleme nicht hätte. Ich rede mir ein, dass ich vielleicht doch noch diese oder jene Ausbildung machen müsste, damit.. das könnte jetzt ein unendlicher Gedankenkreis werden. Auf jeden Fall vermute ich, dass dieses Anhäufen von Projekten neben meinem Interesse auch aus Angst oder Unsicherheit ist, nicht zu genügen. Ich versuche mich an Dingen zu halten, die mir Sicherheit (in welcher Form auch immer) geben könnten. Und jetzt?

Was hat Priorität?

Meine eigene Selbstständigkeit, resp. das Sichern meines Einkommens. In all der Romantik von einer besseren, menschlicheren Welt klingt das nicht so toll, gell. Aber das ist die Realität. Die Selbstständigkeit ist ja auch eher aus der Not und nicht ein lange gehegter Traum. Ich würde genau gleich auch als angestellter (also mit einem sicheren und klaren Einkommen, einem festen Team, …) an dieser besseren Welt arbeiten, nur sind wirklich moderne, menschliche Arbeitgeber und damit verbundene Projekte einfach selten oder irgendwie in einem kaputten System. Wie kann ich mich also für eine bessere Welt einsetzen, wenn ich mir immer Gedanken um Geld machen muss? Dabei geht es übrigens gar nicht um die grossen Dinge. Jedes Mal wenn ich mit meiner Arbeit das (Er-)Leben eines Menschen oder von einer Gruppe etwas besser machen kann, verändert sich damit auch die Welt ein wenig. Es geht also nun darum, wie ich das verbinden kann und dafür brauche ich einen klaren Kopf oder zumindest genügend Energie zum Denken und Handeln in diese Richtung.

«Was der Mensch eigentlich braucht, ist kein entspannter Zustand, sondern das Streben und das Ringen nach einem Ziel, das seiner würdig ist. Was er braucht, ist nicht die Befreiung von Spannungen um jeden Preis, sondern der Ruf eines möglichen Sinns, der darauf wartet, von ihm erfüllt zu werden.»

Viktor E. Frankl

Es ist also die Kunst, diesen «positiven Stress» zu finden. Das Ziel, das seiner würdig ist. Auch hier ist klar, dass dieses im Sinne des ersten Zitates von C. R. Rogers eben mehr eine Richtung als ein konkretes Ziel ist. Wer meine Biografie und vor allem den Tiefpunkt in meinem Leben resp. meiner Gesundheit kennt, der erinnert sich vielleicht daran, dass das Buch ..trotzdem Ja zum Leben sagen eine wichtige, wenn nicht in einem Moment die wichtigste Rolle gespielt hat. Dem Leben einen Sinn zu geben und alles zu ertragen, was ich erleben, lernen und trainieren musste, konnte ich, weil ich wusste, dass ich das (die Erlebnisse, Erkenntnisse aus dem Kampf, dem Leiden, den Begegnungen etc.) weitergeben will, kann und werde. Das wae damals klar. So hat auch diese aktuelle Überforderung einen Sinn. Sie hat dazu geführt, dass ich mich wieder auf das Besinne, was mir wirklich wichtig ist. Auf etwas, das zu meinem Ikigai gehört, meinem Leben Sinn verleiht. Nämlich den Menschen zu ermöglichen sich zu erkennen, zu genesen, zu wachsen, Mensch zu sein.

«Nicht die Umstände bestimmen des Menschen Glück, sondern seine Fähigkeit zur Bewältigung der Umstände.»

Aron Antonovsky


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