Über Paradoxien unserer Arbeitswelt

Vor genau 20 Jahren begann ich meine Lehre. Damals fühlte es sich an wie ein Schritt in die Freiheit (vor allem raus aus der Schule). Und doch war es auch ein erster, ungefilterter Einblick in die unschönen Seiten der Arbeitswelt.

Die Arbeitswelt war mir nicht fremd. Bei uns zuhause war Arbeit immer präsent. Vieles habe ich nicht verstanden, manches hat mich irritiert. Vor allem die Frage: Warum kann Arbeit nicht menschenfreundlicher sein?

Heute dachte ich beim Spaziergang über ein paar Paradoxien nach:

  • Akademische Berufe werden oft glorifiziert, während sogenannte «einfache» Berufe gesellschaftlich wenig Anerkennung erfahren – obwohl gerade dort dringend Fachkräfte fehlen.
  • Lernende mit «Talent» werden gefördert. Andere, oft mit schwierigeren Startbedingungen, werden gefordert, oft mit (subtilem) Druck, Zielvereinbarungen oder Androhungen. Und wir wundern uns, wenn sie nicht aufblühen, abhängen oder sogar krank werden. Wobei auch «Talente» schwierige Startbedingungen haben können. Dazu lohnt es sich, hier reinzuhören.
  • Und dann sind da noch all die, die weder auffallen noch glänzen. Die stillen Lernenden, die weder stören noch begeistern. Sie gehen oft unter. Dabei wäre gerade auch dort Beziehung wichtig.

Ich denke dabei auch an die Zeit vor der Lehre. Wie soll man sich für einen Beruf entscheiden, wenn man kaum Einblick bekommt? Schnupperlehren werden seltener, vieles läuft über Schulnoten (bereits bei der Schnupperlehre) aber sagt das wirklich etwas darüber aus, was junge Menschen gut können oder gerne tun? Darüber, wie sie sich entwickeln? Nein, definitiv nicht. Im ZUKUNFTSHELDEN Podcast haben einige Menschen ihre Erfahrungen und Wege geteilt.

Entwicklung braucht Zeit und Räume, in denen etwas entstehen darf. Ich habe mehr als einmal erlebt, wie sich junge Menschen ganz anders verhalten, wenn man Ihnen Raum und Vertrauen gibt. Wer vorher als «nicht motiviert» oder «leistungsschwach» (ein Ausdruck zum Kotzen) galt, zeigt plötzlich Potenzial und blüht auf. Nicht, weil sich der Mensch so sehr verändert hätte, sondern weil sich der Rahmen verändert hat.

Diese Erfahrung deckt sich mit dem, was ich in meinen Gedanken zum Bildungssystems beschrieben habe: Zu oft messen wir an einem Ideal, das längst vielen Lebensrealitäten widerspricht. Und wie ich in meiner eigenen Pinguin-Geschichte erzählt habe, braucht es manchmal Zeit und die richtigen Umstände, um das eigene Element zu finden.

Was müsste sich also ändern?

Vielleicht geht es weniger darum, an einzelnen Stellschrauben zu drehen und mehr darum, die Haltung zu verändern, mit der wir auf junge Menschen, auf Lernen, auf Arbeit blicken.

Ein paar Gedanken dazu:

Zuhören und Raum geben: Entwicklung braucht Beziehung, und Beziehung braucht Zeit. Wer sich sicher fühlt, kann wachsen. Aber Sicherheit entsteht nicht durch Kontrolle, sondern durch echtes Interesse und Vertrauen.

Lernen neu denken (und gestalten!): Nicht als das Vermitteln von Stoff oder Unterricht, sondern als etwas Lebendiges. Etwas, das mit Identität, Sinn und Erfahrung zu tun hat. Das manchmal laut ist, oft aber leise. Beobachten, Zuhören, selbst ausprobieren und «scheitern», adaptieren und weitermachen.

Zutrauen und Zumuten: Vertrauen zu schenken heisst auch, etwas auszuhalten: Unsicherheit, Umwege, Suchbewegungen. Entwicklung ist kein linearer Prozess und auch kein Produkt.

Führung/Begleitung beginnt bei einem selbst: Wer andere begleitet, sollte sich selbst kennen. Sonst droht Führung (oder Begleitung) zur Kontrolle oder zur Projektion zu werden, statt zur Ermöglichung.

Vielleicht beginnt Veränderung genau damit: die Paradoxien zu erkennen, sie zu benennen und dann Schritt für Schritt anders zu handeln. Nicht mit grossen (und trägen) Systemanpassungen, sondern mit einer anderen Haltung im täglichen Umgang mit jungen Menschen - ob in der Schule, in der Lehre oder am Arbeitsplatz. Die Arbeitswelt wird menschlicher, wenn wir diese Widersprüche nicht mehr als gegeben hinnehmen, sondern als Ausgangspunkt für notwendige Veränderungen nutzen.


Titelbild:  Artūrs Ķipsts auf Unsplash