Wir leben und arbeiten in einer Zeit, in der Veränderungen für viele zum Alltag gehören. Während früher Change-Prozesse klarer definierte Anfangs- und Endpunkte hatten, verschwimmen diese Grenzen immer mehr. Für Teams und ihre Führungskräfte bedeutet dies eine doppelte Herausforderung. Sie müssen nicht nur mit konkreten Veränderungen umgehen, sondern auch mit der Unbeständigkeit als dauerhaftem Zustand. Das ist für viele anspruchsvoll, denn neben den Veränderungen ist da immer noch das Tagesgeschäft, das wie gewohnt weiterlaufen soll und viele haben nicht gelernt, mit (ständigen) Veränderungen umzugehen. Wie kann in diesem Umfeld Zusammenarbeit gelingen, Vertrauen wachsen und Leistungsfähigkeit erhalten bleiben?
«Allein die Idee, dass Change ein Projekt ist, leitet uns in die Irre. Change hat kein Ende. Veränderung ist etwas, das andauert. Es gehört zum Leben und zur Firma wie Atmen und Verkaufen. Veränderung ist ein Routinevorgang, der zum Alltag dazugehören sollte.»
Dr. Markus Ramming, Neuro Change, S. 35
Die Dauerschleife der Veränderung
Der klassische Change-Prozess mit klar abgegrenzten Phasen wird zwar oft noch gelehrt und als Ideal angestrebt, doch in der Praxis nehme ich Veränderungsprozesse heute meistens überlappend und dynamisch wahr. Sie lösen einander ab, ergänzen sich oder widersprechen einander sogar. Führungskräfte stehen vor der Herausforderung, in diesem Chaos Orientierung zu bieten. Doch welche Vision (eigentlich ein wichtiges Element in Change-Prozessen) soll kommuniziert werden, wenn das Ziel durch neue Entwicklungen ständig verschoben wird und der Alltag bereits fordernd genug ist?
Ich denke, es geht weniger um das Erreichen eines bestimmten Zustands, sondern vielmehr um die Etablierung einer Kultur der Anpassungsfähigkeit. Führungspersonen sollten Wege finden, mit dem Team gemeinsam durch diese Herausforderungen und Unsicherheiten zu navigieren. Weil die Vision möglicherweise schwer greifbar ist, sollten sie sich daher nicht nur auf das “Wohin”, sondern auch auf das “Wie” fokussieren. Sie vermitteln dabei weniger eine (oft weit entfernte und schwer greifbare) Zielvision als vielmehr tägliche Prinzipien und Werte, die dem Team als Kompass dienen. Sowieso geht es dabei nicht (nur) um das Vermitteln! Am besten entsteht ein solcher Kompass gemeinsam im Team.
Individualität im Veränderungsprozess
Damit nicht genug. Diese Herausforderung wird noch komplexer durch die Tatsache, dass Menschen total unterschiedlich auf Veränderungen reagieren. Während einige Teammitglieder Neues als Chance begreifen und vorangehen, fühlen sich andere überfordert, ziehen sich zurück oder gehen in den (stillen oder offensichtlichen) Widerstand. Diese Unterschiedlichkeit fordert Führungspersonen ebenfalls. Die Frage stellt sich, wie man ein Team gemeinsam durch Veränderungen führen kann, wenn jedes Mitglied einen anderen Rhythmus und andere Bedürfnisse hat?
Die Kunst liegt darin, sowohl das Team als Ganzes zu stärken als auch individuellen Raum für persönliche Verarbeitungs- und Entwicklungsprozesse zu schaffen. Führungspersonen sollten zwischen kollektiver und individueller Führung balancieren – ein Spagat, der (sehr) hohe emotionale und kommunikative Kompetenzen erfordert.
Der eigene Umgang der Führungsperson mit Veränderung
In dieser anspruchsvollen Situation darf ein wichtiger Aspekt nicht vergessen werden: Führungspersonen sind selbst Teil des Veränderungsprozesses und müssen gleichzeitig andere durch diesen führen. Diese Doppelrolle kann erschöpfend sein und birgt die Gefahr, die eigenen Bewältigungsstrategien zu vernachlässigen, sofern sie denn überhaupt bekannt sind. Trotzdem: Führungskräfte sollten einen gesunden Umgang mit Veränderungen finden, um gesund, sicher und authentisch bleiben zu können.
Aber, wie können Führungskräfte ihre eigenen Unsicherheiten (an-)erkennen, annehmen, verarbeiten und gleichzeitig Sicherheit vermitteln? Ein falsches Verständnis von Führung suggeriert, dass Verwundbarkeit oder Unsicherheit Schwäche bedeuten. Es ist jedoch viel eher so, dass ein offener Umgang mit den eigenen Gedanken, Emotionen und Unsicherheiten in Veränderungsprozessen das Vertrauen im Team stärken und als Modell dienen. Führungspersonen sind immer auch Vorbilder.
«Takt und Timing gehören zur guten Kommunikation in zwischenmenschlichen Beziehungen. Echtheit und Vorsichtigkeit widersprechen sich nicht. Das bedeutet: selektiv authentisch sein.»
Ruth C. Cohn
Das Gefühl der Machtlosigkeit überwinden
Die grundsätzlichen Herausforderungen von Veränderungen sowie die persönliche Herausforderung für Führungskräfte wird zusätzlich erschwert, wenn sich im Team ein kollektives Gefühl der Machtlosigkeit (oder des Widerstands) einstellt. Wenn Veränderungen von aussen aufgezwungen erscheinen (und vielleicht auch tatsächlich werden), entsteht schnell der Eindruck, dem Ganzen ausgeliefert zu sein. Teams oder Teile davon können in eine Opferhaltung geraten, in der sie ihre Handlungsmöglichkeiten nicht mehr erkennen.
Diese Dynamik untergräbt sowohl das Vertrauen als auch die Leistungsfähigkeit. Teammitglieder ziehen sich zurück, die Kommunikation wird defensiv und der Prozess wird blockiert oder zieht viele Ressourcen ab. Eine Herausforderung für Führungskräfte besteht darin, diesen Teufelskreis zu durchbrechen und die kollektive wie individuelle Handlungsfähigkeit wieder spürbar zu machen. Nur wie?
Lösungsansätze für Leader:innen
Bei so vielen Herausforderungen benötigen Führungspersonen wirksame Strategien, um ihr Team durch den permanenten Wandel zu navigieren. Folgende Ansätze können dabei helfen:
(Radikal) Fokussieren
In Zeiten ständiger Veränderung sollten Führungskräfte einen klaren inneren Kompass haben und noch klarer priorisieren können. Das bedeutet nicht nur, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, sondern auch, konsequent zu schützen, was für das Team essenziell ist. Konkret heisst das:
- Kernprozesse und Kernaufgaben identifizieren, die auch in turbulenten Phasen stabil sind und/oder bleiben müssen.
- Bewusst Räume (für Individuen oder das gesamte Team) schaffen, die von aktuellen Veränderungen unberührt bleiben. Das können auch nur kleine Rituale sein.
- Gemeinsam die Frage klären: «Was bleibt konstant, auch wenn sich alles andere ändert?»
Gemeinsame Bedeutung schaffen
Um in Veränderungsprozessen nicht den Überblick zu verlieren, brauchen Teams ein gemeinsames Verständnis davon, was geschieht. Führungskräfte können diesen Prozess unterstützen durch:
- Regelmässige Dialogformate, in denen aktuelle Entwicklungen und Unklarheiten offen besprochen werden.
- Die Entwicklung einer gemeinsamen Erzählung, welche die Veränderungen in einer Perspektive des Grossen Ganzen zeigt.
- Das aktive Einbeziehen verschiedener Perspektiven, um ein vollständigeres Bild zu erhalten.
Handlungsspielräume sichtbar machen
Die Überwindung der Opferhaltung beginnt mit dem Erkennen von Gestaltungsmöglichkeiten. Führungskräfte können diesen Prozess fördern durch:
- Gemeinsame Analyse: Worauf haben wir Einfluss, worauf nicht? (Circel of Influence).
- Kleine Erfolge feiern, die das Gefühl der Selbstwirksamkeit stärken.
- Zu Experimenten ermutigen, in denen Teams eigene Lösungsansätze erproben können.
Vertrauen durch Verlässlichkeit schaffen
Je unsicherer das Umfeld, desto wichtiger wird Vertrauen als Basis der Zusammenarbeit. Führungskräfte können Vertrauen stärken durch:
- Transparente Kommunikation, auch wenn nicht alle Fragen beantwortet werden können.
- Strukturen und Prozesse, auf die sich das Team verlassen kann.
- Konsequentes Einhalten von Zusagen und klare Kommunikation, wenn dies nicht möglich ist.
Praktiken zu individueller und gemeinsamer Entwicklung
Die Widerstandskraft des Teams wird zum entscheidenden Faktor für langfristige Leistungsfähigkeit. Hilfreiche Praktiken sind:
- Regelmässige Retrospektiven, um aus Erfahrungen zu lernen und bisherige Meilensteine und Erfolge sichtbar zu machen.
- Anerkennung unterschiedlicher Bewältigungsstrategien und gegenseitige Unterstützung.
«Sind Veränderung und Entwicklung für uns dagegen normal, dann ist etwas, das wir nicht können, eine Chance zur Veränderung und Verbesserung.»
Dr. Markus Ramming, Neuro Change, S. 36
Gemeinsam wachsen durch Veränderung
Der Umgang mit ständigem Wandel bietet eine Chance für Teams, gemeinsam zu wachsen, ihre Zusammenarbeit zu beleuchten und besser zu machen. Wenn es gelingt, Veränderungsprozesse als gemeinsame Entwicklungsreise zu gestalten, können tiefere Verbindungen zwischen Teammitgliedern und ein geteiltes Verständnis der gemeinsamen Arbeit entstehen. Das wird ein nie endender Prozess bleiben.
«Wer sich seine Zukunftsfähigkeit bewahren will, wird um starke und sich tief verbundene Teams nicht herumkommen.»
Das neue Führen (2023), Janssen B., S. 171
Führungspersonen, die ihr Team dabei unterstützen, Veränderung nicht als Bedrohung, sondern als Möglichkeit zur gemeinsamen Weiterentwicklung zu sehen, können eine Grundlage für eine nachhaltige Teamkultur schaffen. In einer solchen Kultur wird nicht trotz, sondern gerade wegen der ständigen Veränderungen eine tiefere Form der Zusammenarbeit möglich – eine, die auf gegenseitigem Verständnis, Vertrauen und gemeinsamen Zielen basiert.
Die grösste Herausforderung und gleichzeitig die grösste Chance liegt darin, Veränderung nicht mehr als Ausnahmezustand zu betrachten, sondern als (neue) Normalität anzunehmen – in dieser (neuen) Normalität sollte Zusammenarbeit, Vertrauen und Leistungsfähigkeit kontinuierlich neu definiert und gemeinsam gestaltet werden.
📚Passende Bücher
📘Neuro Change, Antworten der Hirnforschung auf den Wandel im Management, Dr. Markus Ramming
📘 Das neue Führen, Führen und sich führen lassen in Zeiten der Unvorhersehbarkeit, Bodo Janssen
📘 TZI - Die Kunst sich selbst und eine Gruppe zu leiten
📘Theorie U, Von der Zukunft her führen, Presencing als soziale Technik, C. Otto Scharmer
📘 Trust me, warum Vertrauen die Zukunft der Arbeit ist, Karin Lausch
Titelbild: Michael Bußmann auf Pixabay