Komplexität und Vielfalt als Chance für Organisationen

«Die grösste Gefahr in Zeiten des Umbruchs ist nicht der Umbruch selbst – es ist das Handeln mit der Logik von gestern.»

Peter Drucker

Menschen in Organisationen

Wir arbeiten oft in Umgebungen, die von Effizienz, Prozessoptimierung und Ergebnisorientierung geprägt sind. Auch bei Change-Vorhaben (wobei «Change» doch mittlerweile Alltag ist), liegt immer noch (zu) viel Fokus auf den «harten» Dingen. Einem wichtigen Element wird dabei fast immer zu wenig Beachtung geschenkt: Organisationen sind vor allem Orte, an denen Menschen zusammenkommen. Menschen mit unterschiedlichen Biografien, Prägungen, Bedürfnissen, Kompetenzen und Perspektiven treffen aufeinander, um gemeinsam Ziele zu erreichen, die individuell nicht erreichbar wären. Diese menschliche Dimension in ihrer ganzen Komplexität wird in Organisationen und auch in der der Personal- und Organisationsentwicklung oft nicht genügend berücksichtigt. 

«Deswegen reden wir von Change Management, kurzen Programmen, damit danach das Geschäft wieder läuft wie gehabt – dabei bildet der Doppelbegriff Change Management eigentlich einen Widerspruch in sich.»

Hans Rusinek, Work Survive Balance, S. 107

Die systemische Dimension des Menschseins

Jeder Mensch ist Teil verschiedener Systeme und wurde durch sie geprägt. Familie, Kultur, Bildungsweg, frühere Arbeitsumgebungen – all diese Einflüsse formen unsere Wahrnehmung, Kommunikation und Handlungsmuster. Wenn ein Team zusammenkommt, treffen nicht nur verschiedene Fachkompetenzen aufeinander, sondern auch unterschiedliche systemische Prägungen. Diese Unterschiede sind weder gut noch schlecht – sie sind einfach da und sind ein Teil der menschlichen Vielfalt in Organisationen. 

«Wir sind nicht. Wir verhalten uns ständig. Wir verhlten und entsprechend dem System, dem wir (gerade) angehören.»

Sonja Radatz, Beratung ohne Ratschlag, S. 61

Der blinde Fleck in der Organisationsentwicklung

Trotz dieser (eigentlich offensichtlichen) Vielschichtigkeit und Komplexität konzentrieren sich viele (Organisations-)Entwicklungsmassnahmen primär auf Strukturen, Prozesse und messbare Ergebnisse. Meetings werden effizienter gestaltet, Prozesse optimiert, neue Arbeitsformen oder Arbeitsmittel eingeführt, während die komplexe menschliche Dimension zwar irgendwie benannt, aber dann doch eher (oder sehr) stiefmütterlich behandelt wird. Denn Menschen sind zwar bereit, sich zu verändern, sie lassen sich jedoch nicht gerne verändern. Das wüsste «man» eigentlich. Aber eben, die Idee von Menschen als Maschinen, die man nur richtig umprogrammieren muss, hält sich hartnäckig. 

Das führt zu Schwierigkeiten und Kosten, weil die Pläne eben nicht (oh Wunder!) wie geplant aufgehen: 

  • (Anhaltende) Missverständnisse, weil unterschiedliche Interpretationen nicht benannt oder (an-)erkannt werden.
  • Wiederkehrende Konflikte, deren wahre Ursachen unter der Oberfläche liegen und liegen bleiben, solange «man» die Menschen und ihre Bedürfnisse ignoriert. 
  • Verschwendete Potenziale, weil die Vielfalt der Perspektiven nicht als Ressource erkannt wird.
  • Erschöpfung und innere Kündigung, wenn Menschen das Gefühl haben, nicht gesehen und gehört zu werden.

Als wäre das nicht genug, finden sich auch Mitarbeitenden in einer nicht förderlichen (Doppel-)Rolle. 

Die Doppelrolle der Mitarbeitenden

Eine weitere Schwierigkeit liegt in der Doppelrolle, die jedes Organisationsmitglied hat. Einerseits sind wir Individuen mit eigenen Bedürfnissen, Wünschen, Perspektiven und Ängsten. Wir streben nach Anerkennung, Entwicklung und Selbstverwirklichung. Andererseits sind wir Teil eines grösseren Ganzen – einer Organisation, die nur funktionieren kann, wenn die Individuen gemeinsam arbeiten. 

In diesem Spannungsfeld zu navigieren ist anspruchsvoll. Oft vergessen Mitarbeitende, dass sie Teil eines kollektiven Unterfangens sind und erwarten, dass die Organisation (primär) ihren individuellen Bedürfnissen dient. Ebenso häufig vergessen Organisationen, dass ihre Mitglieder mehr sind als funktionale Rollen in einem Organigramm (oder Zahnräder in einer Maschine). Eine wirkungsvolle Organisation(-sentwicklung) sollte beide Pole dieser Spannung (an-)erkennen und Wege finden, sie zu gestalten.

Ansätze für eine menschlichere Organisationsentwicklung

Wie können wir die menschliche Komplexität in Organisationen und deren Entwicklung besser berücksichtigen? Ein paar Gedanken dazu: 

Räume für Dialog und Perspektivenwechsel schaffen

Teams brauchen Gelegenheiten, um über die reine Aufgabenebene hinauszugehen und ein tieferes Verständnis füreinander zu entwickeln. Das könnte sein: 

  • Einander besser Kennenlernen ausserhalb der klassischen Arbeitsrollen 
  • «Working Out Loud»-Kreise um gemeinsam und voneinander zu lernen
  • Strukturierte Reflexionsgespräche/kollegiale Beratung (auch Team- und Abteilungsübergreifend)

Diese Formate helfen, andere besser (und nicht nur als Mitarbeitende, sondern als Mensch) kennenzulernen, zu verstehen und Unterschiede nicht als Störfaktoren, sondern als Ressourcen zu begreifen.

Systemische Führungskompetenz entwickeln

Führungskräfte sollten lernen, systemisch zu denken und zu handeln. Das bedeutet:

  • Die verschiedenen Systeme zu erkennen, in denen ihre Teammitglieder sich bewegen.
  • Verhalten im Kontext zu interpretieren, statt vorschnell zu bewerten – denn Menschen verhalten sich in unterschiedlichen Systemen anders.
  • Mit Widersprüchen und Ambiguität konstruktiv umzugehen.
  • Die eigenen systemischen Prägungen zu reflektieren.

Führungspersonen werden so zu einer Art Übersetzer:innen zwischen verschiedenen Welten und können Brücken bauen. Aber ja, das bedeutet eine (grosse) Bereitschaft, sich den eigenen Prägungen zu stellen, hinzusehen und damit zu arbeiten. Denn im Innen und im Kleinen sollte beginnen, was sich später auf ein Team auswirken kann. Es muss auch davon ausgegangen werden, dass dieser Entwicklungsprozess resp. die Prozesse lange dauern und eher in Wellen als linear stattfinden. 

«Führung ist die Fähigkeit, das Ganze besser hören zu können als irgendjemand sonst.»

C. Otto Scharmer, Theorie U, S. 81 (über systemische und gemeinsame Führung, jenseits von formalen Führungsrollen.

Eine Kultur des “Sowohl-als-auch” pflegen

Statt einem Entweder-Oder-Denken, brauchen Organisationen eine Kultur, die Komplexität willkommen heisst – denn Komplexität geht nicht mehr weg und so gerne man diese vereinfachen möchte, es macht keinen Sinn. 

Es braucht:

  • Struktur und Flexibilität
  • Individuelle Entfaltung und kollektive Verantwortung
  • Emotionale und rationale Perspektiven bei Entscheidungen
  • Kurzfristige/schnelle Ergebnisse und langfristige Entwicklung

Diese Haltung schafft Raum für die Vielschichtigkeit des Menschseins, der Welt und von Organisationen.

«Kontextkompetenz heisst, Komplexität zu erschliessen, sie lauffähig zu machen für sich und für andere. Teilhabe, das meint nicht einfach, das, was da ist, neu zu verteilen, sondern es vielmehr so weiterzugeben, dass andere es nutzen - und nicht nur konsumieren können. Was da ist, soll Früchte tragen, zu Neuem und Eigenem führen.» 

Wolf Lotter, Zusammenhänge

Fähigkeiten für den Umgang mit Komplexität fördern

Nicht nur Führungskräfte, sondern alle Mitarbeitenden brauchen Fähigkeiten, um mit (menschlicher) Komplexität umzugehen:

  • Empathie und aktives Zuhören, wobei ich mit diesem aktiven Zuhören immer wieder hadere. Wird es nicht allzu oft missverstanden und als Technik angewandt. Vielleicht wäre es sinnvoller, von neugierigem und offenem Zuhören zu sprechen.
  • Konfliktfähigkeit und konstruktives Feedback (Konfliktfähigkeit heisst, dass Konflikte angesprochen und ausgetragen werden können. Das wiederum heisst auch, Spannungen auszuhalten).
  • Ambiguitätstoleranz und Perspektivwechsel
  • Selbstreflexion und emotionale Intelligenz

Diese Kompetenzen werden in einer komplexen, sich schnell und stetig verändernden Arbeitswelt immer wichtiger.

Gedanken zu diesem empathischen oder aktiven Zuhören: Carl Rogers schrieb einmal: «innerhalb weniger Jahre wurde der ganze Ansatz als Technik bekannt. […] Ich war über die Verzerrungen unseres Ansatzes so schockiert, dass ich jahrelang fast nichts mehr über empathisches Zuhören sagte, und wenn ich es tat, dann nur, um die empathische Einstellung zu betonen.»

Die Menschen in ihrer ganzen Komplexität sind der Schlüssel zum Erfolg

Die grössten Herausforderungen in Organisationen sind selten technischer, sondern menschlicher Natur. Wenn wir die Vielschichtigkeit des Menschseins in Organisationen und deren Entwicklung (wirklich) ernst nehmen, können wir (grosse) Potenziale freisetzen. Wie cool könnte es sein! Wir hätten:

  • Tiefere Verbindungen und mehr Vertrauen
  • Kreativere Lösungen durch vielfältige Perspektiven
  • Höhere Resilienz in komplexen Situationen
  • Nachhaltigere Veränderungsprozesse

Es sind nicht perfekte Strukturen oder Prozesse, die eine Organisation erfolgreich machen (die sind natürlich auch wichtig), sondern Menschen, die in ihrer ganzen Komplexität gesehen werden und gemeinsam an etwas arbeiten, was grösser ist als sie selbst.

Der Weg zu einer solchen Organisation beginnt mit der bewussten Entscheidung, die Menschen nicht als störenden (oder nicht wichtigen) Faktor zu sehen, sondern als eine oder die wertvolle Ressource.

Eine der entscheidenden Fähigkeiten, die Unternehmen, Teams oder Menschen in einer dynamischen, volatilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Welt zu entwickeln haben, ist die, sich auf die sich permanent verändernden Rahmenbedingungen gut einstellen können.

Bodo Janssen, Das neue Führen, S. 145