Wir brauchen mehr Räume, um Potenziale sichtbar zu machen

«Was willst du einmal werden?»
Diese Frage wird Kindern gerne gestellt und sie wird mit der Zeit immer ernster. Während wir bei jüngeren Kindern Prinzessin, Astronaut oder Feuerwehrfrau noch «herzig» finden, werden wir später kritischer. Bald werden die Wunschberufe in Zusammenhang mit den Schulnoten oder mit dem beobachteten (vielleicht eher interpretierten) Verhalten gesetzt. Nicht selten ist beides eine Projektion der eigenen Sicht auf die Person und die Welt.
Man könnte hier noch anfügen, dass es beim «Werden» immer um den Beruf (und da ist meistens immer noch einer gemeint) handelt. Die Frage richtet sich selten (wohl nie) nach dem, was ein Mensch als Mensch werden möchte. Ein «guter», «liebevoller», «innovativer» oder was auch immer. Wobei auch diese Frage auf der Suche nach einer fixen Antwort, also etwas Statischem, einem Endzustand wäre. Das wird uns Menschen nicht gerecht. Trotzdem. Dieser Text beleuchtet das berufliche «Werden».
Woher soll man denn wissen, was man «werden» will?
Wir leben zwar in einer Zeit, in der vieles (vermeintlich) sichtbar ist und wissen trotzdem vieles nicht – so auch darüber, wie es in einem bestimmten Job wirklich aussieht. Nicht einmal Erwachsene wissen, wie es in Berufen ausserhalb ihres Kosmos (manchmal sogar innerhalb) aussieht. Wie sollen es Kinder und Jugendliche dann wissen? Nehmen wir doch das Beispiel Pflege: Hintern abwischen, der Ärztin «assistieren», das Bett machen, Medikamente richten. Ja, in welchem Bereich denn? In der Langzeitpflege, in einem Akutspital, in der Psychiatrie, bei der Spitex? Und wenn wir schon im Spital sind – auf der Intensivstation, auf einer Bettenstation für Herz- und Gefässkrankheiten, in einer onkologischen Abteilung? Obwohl wohl viele sagen würden, sie wissen, was Pflege ist, wissen sie eigentlich kaum etwas darüber. Und das ist nur einer von unzähligen Berufen. Wir könnten bei den «kaufmännischen» Berufen weitermachen, aber ich denke, es ist klar genug.
Also, was willst du denn (einmal) werden?
Fachkräftemangel? Oder Potenzialmangel?
Schulnoten und in der Schule beobachtetes (interpretiertes, projiziertes) Verhalten als Basis für Potenzial, Einstufungstests, Berufsberatungen, Mitarbeitendengespräche oder Aus- und Weiterbildungen sind nur einige und aus meiner Sicht zu isolierte oder wenig sinnvolle Möglichkeiten, um herauszufinden, was Mensch tun möchte und ob Mensch etwas auch tun kann oder könnte. Darin umzudenken und vor allem anders zu handeln, so bin ich der Meinung, liegt ein Schlüssel für mehr Sinn und Zufriedenheit auf individueller Ebene sowie dem Nutzen von Potenzialen aus Sicht von Organisationen.
Der viel zitierte Fachkräftemangel ist deshalb nicht nur ein Problem fehlender Leute, sondern vor allem ein Problem eines Systems, das vorhandene Potenziale nicht erkennt oder verkümmern lässt.
Dafür braucht es jedoch Entwicklungsfreiräume, also Lern-, Entdeckungs- und Experimentierräume. Es braucht Begegnungen und dafür Begegnungsmöglichkeiten, es braucht Vertrauen, Offenheit und keine Angst davor, dass man von jemandem «überholt» werden könnte.
Jetzt habe ich einige Dinge vermischt. Den Fachkräftemangel und das Finden der eigenen Wege (Wege!). Ja, ich habe sogar die Linie zwischen den Erwachsenen und den Kindern/Jugendlichen verfliessen lassen. Nicht aus Versehen, sondern mit voller Absicht.
Loslassen und die Chancen unserer Zeit nutzen
Es wäre also langsam Zeit (es ist höchste Zeit!) diese alten Denk- und Handlungsweisen und Denkmuster loszulassen. Das gilt für alle, die sich irgendwo in der Umgebung der Arbeitswelt (Schule, Organisationen, Individuen, RAV, Integrationsangebote, IV, …) bewegen. Natürlich, das passiert bereits hier und da, aber es sind fast immer Ausnahmen. Heldengeschichten, die zwar genau dort funktionieren, aber was wäre, wenn alle so denken und handeln würden? Dann kommen Fragen wie diese: Was wäre, wenn jede und jeder «nur» das macht, was er will (und nicht die nötigen Schulnoten und Abschlüsse hat)? Möchtest du von so einer Ärztin behandelt werden oder bei deinem nächsten Flug so einen Piloten im Cockpit haben? Ja, da kommen sie dann, die vernichtenden Extrembeispiele. Nein, vielleicht möchte ich das nicht – wobei es da immer auf den individuellen Weg ankommt. Genauso wenig möchte ich von einem Top-Banker mit allen und noch mehr nötigen Qualifikationen betrogen werden (sorry fürs Klischee).
Was es also braucht, ist ein neues oder anderes Verständnis für Berufs- und Bildungswege. Solche, die sich an den wirklichen Stärken und Interessen der Menschen orientieren und die sind oft auf den ersten Blick unsichtbar. Da sind Stärken und Interessen, die sich erst in der passenden Umgebung und zur passenden Zeit zeigen (können). Dafür braucht es (auch) Entwicklungsfreiräume und das am besten mitten in der Arbeitswelt. Denn eine vernetzte Arbeitswelt, ständig wechselnde und neue Jobprofile bieten die beste Möglichkeit dafür.
Eine Karriere ist selten linear und bietet kaum mehr dreissig Jahre Jobsicherheit.
Menschen haben unglaubliche Potenziale, wenn man ihnen den Raum gibt (und das können vor allem die tun, die eine Form der Macht «besitzen»). Damit Menschen ihre Potenziale entfalten können, ihren Interessen und ihren Ideen Raum geben können, brauchen sie Vertrauen und Offenheit.
Was heisst das konkret?
Es bedeutet zuerst einmal, dass wir genauer hinschauen und Räume schaffen müssen. Für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleichermassen. Räume, in denen man ausprobieren darf, in denen Begegnungen entstehen und in denen Stärken sichtbar werden, die vorher verborgen waren.
Kinder und Jugendliche: Experimente statt Schubladen
Ein Jugendlicher organisiert ein kleines Sportturnier im Verein. Kein grosses Ding, möchte man meinen. Doch im Tun wird sichtbar: er kann koordinieren, motivieren, Abläufe planen. In einer Welt der klassischen Berufsberatung würde das kaum auftauchen, dort zählen Schulnoten oder standardisierte Tests. Genau hier braucht es Erwachsene, die hinschauen, die diese Stärken erkennen und ihnen Raum geben. Vielleicht nicht mit einem fixen «Berufsbild» im Kopf, sondern mit der Einladung: Probier weiter aus. Wo kannst du diese Fähigkeiten einsetzen?
Dabei ist wichtig: Noten und Verhalten in der Schule sind kein verlässlicher Massstab. Ein Kind kann angepasst und leise sein, weil es sich ins System fügt oder rebellisch und laut, weil es nicht hineinpasst. Beides sagt wenig darüber aus, was es wirklich kann oder wofür es brennt. Schule ist ein System mit eigenen Regeln, die nicht zwingend mit den Stärken eines Menschen übereinstimmen.
Gedanklich lässt sich das so vorstellen: Jemand ist schlecht in Mathe, möchte aber Elektriker werden. Schulnoten könnten zum Hindernis werden. Doch bekommt er die Chance, handwerklich zu arbeiten, macht Mathe plötzlich Sinn, weil es gebraucht wird. Auf einmal klappt es. Solche Wendungen zeigen, warum es Experimentierräume (und Vertrauen) braucht, die über Schule und Noten hinausgehen.
Erwachsene: Verdecktes sichtbar machen
Bei Erwachsenen ist es oft noch schwieriger. Viele haben früh gelernt, dass bestimmte Eigenschaften unerwünscht sind: «zu laut», «zu gesellig», «zu still», «träumerisch». Alles, was nicht ins Bild passte, wurde schnell als Schwäche abgestempelt und so verborgen, manchmal über Jahrzehnte. Dabei steckt genau darin oft ein Potenzial.
Ein einfaches Beispiel: Eine Frau arbeitet jahrelang in der Administration. Unauffällig, «zu still» (obwohl sie eben früher «zu laut» war) für Führungs- oder Projektleitungsaufgaben. In einer Projektgruppe fällt auf: Sie erkennt, wo Prozesse stocken, kann Strukturen ordnen und einfache Lösungen entwickeln. Diese Stärke war immer da, nur hatte niemand danach gefragt. Sichtbar wird sie erst, wenn der Kontext sich ändert und jemand genau hinschaut.
Rollen und Verantwortung: Wer schafft diese Räume?
Wenn Potenziale sichtbar werden sollen (bei Jugendlichen wie bei Erwachsenen) reicht es nicht, auf Zufälle zu hoffen. Es braucht Menschen und Strukturen, die solche Entdeckungen ermöglichen. Hier spielen Organisationen, Führungspersonen, Kolleg:innen und die Individuen selbst zusammen:
- Organisationen können Strukturen öffnen: kleine Experimentierräume, Job-Shadowing, Einsätze in anderen Abteilungen oder sogar in Partnerorganisationen. Statt alles auf lineare Laufbahnen und Zertifikate zu reduzieren, entsteht so Beweglichkeit.
- Führungspersonen und Mitarbeitende mit Verantwortung (und auch Kolleg:innen) können Türen öffnen: «Komm, begleite mich einen Tag.» Einblicke geben, auch mal jemanden aus einer anderen Abteilung oder Organisation mitnehmen. So werden Arbeitsrealitäten erfahrbar. (Damit meine ich nicht durchgetaktete und sauber organisierte «Zukunftstage»).
- Individuen selbst dürfen neugierig bleiben. Das heisst: Gespräche führen mit Kolleg:innen, Mentor:innen, Menschen aus ganz anderen Feldern. Sich Einblicke holen. Kleine Dinge ausprobieren, ohne gleich das ganze Leben umzuwerfen. Es geht nicht darum, sofort den perfekten Platz zu finden, sondern ums Ausprobieren, ums Tasten, ums Erweitern der eigenen Möglichkeiten.
So entstehen Wege statt Pläne. Wege, die sich nicht in Tabellen abbilden lassen, sondern durchs Tun entstehen. Wege, die sich verändern dürfen, wenn Neues sichtbar wird oder Altes nicht mehr passt. Wenn wir das kollektiv zulassen, als Gesellschaft, als Organisationen, als Menschen, die einander begleiten, dann können Potenziale wachsen, die heute oft unentdeckt bleiben.
Ben Zaugg