Mein persönlicher Bezug
Ich habe mich lange damit beschäftigt, Menschen in ihrer individuellen Entfaltung zu begleiten. Einzelbegleitung war mir wichtig, die Arbeit mit Einzelpersonen, das Beobachten, Fragen stellen, Räume öffnen, damit sie ihren eigenen Weg finden (ja, da ist oder war wohl auch viel Biografie drin). Irgendwann ist mir klar geworden: So wichtig diese individuelle Arbeit ist – das Zusammenspiel in Gruppen, Teams und Organisationen ist mindestens genauso entscheidend. Räume, in denen Menschen sich zeigen können, Räume, in denen Echtheit möglich ist, werden hier erst wirklich relevant.
«Authentizität erweist sich weniger als moralische Kategorie im Sinne von: man sollte als ehrlicher und wahrhaftiger Mensch authentisch sein oder sich in sittlicher Anstrengung darum bemühen. Vielmehr ist es eine psychologische Kategorie im Sinne von: gute Selbstwahrnehmung, verbunden mit dem Mut, zu sich selbst zu stehen, und der Fähigkeit, sich so zu geben, wie es innerlich entspricht. Auf dem Gegenpol finden wir die Fassade, die gekünstelte und zuweilen hoch professionelle Selbstpräsentation, mit der bewussten oder un-bewussten Absicht, sich zu schützen und/oder erwünschte Wirkungen zu erzielen. Im Extremen finden wir die Marketing-Persönlichkeit, die durch und durch von der gewinnenden Wirkungsabsicht beseelt und sich selbst abhandengekommen ist.» F. Schulz von Thun
Echtheit in der Arbeit ist kein Wohlfühlprogramm
Echtheit bedeutet, sich selbst zu zeigen und gleichzeitig dem Gegenüber die Möglichkeit zu geben, echt zu sein. Echte Verbindungen in der Arbeitsbeziehung sind Arbeit, manchmal (meistens) harte Arbeit. Es geht nicht darum, immer alles auszusprechen oder sich völlig zu öffnen. Es geht darum, dass Unterschiede und kleine Spannungen aushaltbar werden. Dass Menschen gesehen werden, ohne sich gegenseitig zu verbiegen. (Ja, das ist schwer. Natürlich.) Aber genau hier beginnt, was gute Zusammenarbeit möglich macht.
Arbeit darf (uns soll) fordern – ohne zu verbiegen
Arbeit darf anstrengend sein, fordern, uns herausfordern, auch mal müde machen. Das ist nicht nur okay, das ist nötig. Arbeit darf uns wachsen lassen, aber sie darf (oder sollte) uns nicht verbiegen. Echtheit heisst, die Spannung auszuhalten: Wir zeigen uns, wir tragen unsere Ideen, unsere Impulse, wir stehen in der Verantwortung. Und gleichzeitig respektieren wir die Unterschiede der anderen. (Wenn das einfach wäre, bräuchte es diese Gedanken und diesen Text wohl nicht.)
«Wer sich seine Zukunftsfähigkeit bewahren will, wird um starke und sich tief verbunden fühlende Teams nicht herumkommen.»
Janssen Bodo (2023), Das neue Führen, S. 171
Echtheit in Bewegung: Individuum, Team, Organisation
Echtheit lebt auf mehreren Ebenen gleichzeitig. Und es ist ein Wechselspiel, das man spüren muss:
Individuum: Mir selbst begegnen, die eigenen Gedanken, Rollen, Impulse wahrnehmen. Welche Stimmen sprechen in mir? Welche dürfen laut sein, welche leise bleiben? Wer spricht mit wem? Da denke ich an das innere Team von Schulz von Thun.
Team: Den Raum miteinander teilen, Unterschiede aushalten, Resonanzen spüren, gemeinsam Entscheidungen treffen. Teams können Räume gestalten, auch wenn die Organisation noch nicht alles zulässt. Hier, so finde ich, bietet die Theorie einen wunderbaren Rahmen, Ideen und Inspiration.
Organisation: Strukturen, Rituale, Rahmenbedingungen schaffen, die Echtheit unterstützen, ohne sie zu erzwingen. Das kann heissen, das ein Kulturwandel nötig ist.
Spiel & Experimente: Routinen aufbrechen, Neues ausprobieren, kleine Prototypen schaffen. Möglichkeiten, die Räume öffnen, die sonst verschlossen blieben.
(Ja, manchmal ist das ein Hin und Her: Individuum, Team, Organisation, wieder zurück zum Einzelnen – alles beeinflusst sich gegenseitig. Herausforderung und Chance zugleich. Wen erinnert das auch an ein Ökosystem?)
«Takt und Timing gehören zur guten Kommunikation in zwischenmenschlichen Beziehungen. Echtheit und Vorsichtigkeit widersprechen sich nicht. Das bedeutet: selektiv authentisch sein.»
Ruth C. Cohn
Räume gestalten – Praxisideen
Wie können solche Räume im Alltag aussehen? Hier ein paar Impulse:
- Führungskraefte als Möglichmacher: Nicht (nur) Aufgaben verteilen und kontrollieren (das sollte eh nicht so oft der Fall sein), sondern bewusst Rahmen schaffen, in dem Menschen sich einbringen dürfen. Das Vertrauen zu haben sich einbringen zu dürfen und auch zu können, also die eigene Gestaltungskraft muss vielleicht zuerst wieder gelernt und entdeckt werden (das wäre dann wieder ein zusätzlicher Prozess).
Über die Führung schreibt Otto Scharmer auch in seinem Buch. Wie wichtig die Rolle der Führung sein kann, zeigt sich vielleicht in dieser Perspektive weg vom Managementgedanken: «Niemals jedoch haben wir systematisch die Arbeit der Führenden von der dritten Möglichkeit her angesehen, der leeren Leinwand. Die Frage, die ungestellt blieb, lautet: Welches sind die inneren Quellen, von denen aus Führende wirksam werden, wenn sie wahrnehmen, kommunizieren und handeln?» Es geht also nicht darum, was die Führungsperson macht und wie, sondern auch um ihre «innere Verfassung», um den «Quellort» der Handlungen. Scharmer (2020), S. 68
- Teamrituale: Kurze tägliche Check-ins, Reflexionsrunden, Feedback-Formate. Kein Zwang, aber Einladung zur Echtheit und zur Begegnung jenseits der Arbeitsroutinen.
- Experimentelle Formate: Workshops, Prototyping, spielerische Elemente – Räume, in denen Neues ausprobiert werden darf (und soll).
- Bewusste Begegnung: Informelle Austauschmöglichkeiten, kleine Pausen, offene Meetings, wo Begegnung wirklich stattfinden kann. Vielleicht muss das, gerade in Teams mit viel Teilzeit- oder Homeofficearbeit bewusst geplant werden.
- Reflexionsräume für Einzelne: Gelegenheiten schaffen, in denen Mitarbeitende und Führungspersonen sich selbst wahrnehmen und ihre Rolle im Team reflektieren können. Diese individuellen Räume können in der Gruppe oder im Individuellen stattfinden.
Diese Punkte sind keine To-do-Liste, sondern eher Einladung, bewusst über Räume nachzudenken und zu sehen, wo man sie auf allen Ebenen gestalten kann. Dabei geht es nicht um Perfektion, nicht darum, alles zu tun. Anfangen und auf dem Weg lernen, das ist die Devise.
«Je mehr ich einfach gewillt bin, inmitten dieser ganzen Komplexität des Lebens ich selbst zu sein, und je mehr ich gewillt bin, die Realitäten in mir selbst und im anderen zu verstehen und zu akzeptieren, desto mehr Veränderung scheint in Gang zu kommen.»
Rogers Carl (1973), S. 37
Begegnung beginnt bei mir selbst
Bevor ich anderen begegnen kann, muss ich mich selbst wahrnehmen. Wer bin ich gerade? Welche Impulse habe ich? Welche Reaktionen trage ich in mir? Erst wenn ich mir selbst begegne, kann ich authentisch in die Begegnung mit anderen treten. Und diese Begegnung ist die Basis für echte Zusammenarbeit. (Manchmal reicht schon eine Minute bewusster Präsenz, um spürbar etwas zu verändern.)
Die Begegnung mit sich selbst kann im Stillen (beim Spazieren, in der Meditation) oder im Kontakt mit anderen stattfinden. Vor längerer Zeit habe ich über eine Möglichkeit und eine eigene Erfahrung geschrieben https://www.bensblog.ch/case-clinic/.
Zukunft gestalten durch Experimente
Die Zukunft entsteht nicht nur durch abstrakte Strategien oder Konzepte (sie sind auch irgendwie wichtig, aber halt auf einer anderen Ebene). Sie entsteht durch Experimente – durch Ausprobieren, Scheitern, Lernen. Individuen, Teams und Organisationen entwickeln sich durch diese kleinen Experimente, durch das bewusste Gestalten von Räumen, in denen Menschen sich einbringen dürfen (und sollen). Wir sprechen bei der Zukunft eigentlich immer von möglichen Zukünften, die wir noch nicht kennen (können). Also eine Mögliche Zukunft, die wir hier in der Gegenwart gestalten können, dürfen (uns sollten!).
Da gibt es etliche Möglichkeiten. Ein paar davon sind:
- Rollen tauschen, Prozesse testen, Feedback-Formate ausprobieren
- Storytelling, Visualisierungen, spielerische Elemente, die Routinen aufbrechen
- Reflexion auf allen Ebenen: Wo entstehen Räume für Begegnung, wo werden sie blockiert?
Zukunft beginnt mit Begegnung
Zukunft beginnt nicht mit Strategien, auch wenn sie wichtig sind. Sie beginnt im Moment der Begegnung – mit mir selbst, mit anderen, in Teams, in Organisationen. Dabei spielen auch spielerische Elemente eine Rolle: Sie öffnen Raeume, bringen Menschen in Bewegung, schaffen Resonanz. Ja, manchmal führt das zu weniger sichtbar messbarem Output, manchmal zu längeren Prozessen. Aber genau darin liegt die Kraft: In der Tiefe, in der Verbindung, in der Möglichkeit, dass Menschen wirklich wachsen, sich entfalten und gemeinsam Neues gestalten. Arbeit kann ein solcher Ort sein, wenn wir diese Räume bewusst zulassen und gestalten.
Ich beschäftige mich nun noch stärker damit, wie genau Spiel, Experimente und Bewegung genutzt werden können, um Begegnung zu fördern und Prozesse zu vertiefen. In Teams, in Organisationen, zwischen Individuum und Gruppe (und das alles im Arbeitsalltag, der einfach weiterlaufen muss).
Die Frage, die für mich bleibt und sich immer wieder stellt nehme ich aus dem Buch von Otto Scharmer mit. Wobei ich sie hier etwas umformulieren würde im Sinne «wie können Gruppen», da ich meistens Begleiter dieser Gruppen bin. Wobei ich gleichzeitig sagen muss, dass ich mich auch immer als Teil dieser Gruppe, der Begegnungen, des Prozesses sehe. Du siehst es ist gar nicht so einfach. Aber die Frage bleibt:
«Wie können wir als Gruppe unser Aufmerksamkeitsfeld so verändern, dass wir uns mit unserem höchsten Zukunftspotenzial verbinden anstatt weiterhin in Handlungsmustern der Vergangenheit zu reinszenieren.» Scharmer (2020), S. 107
📚Passende Bücher:
Theorie U, Von der Zukunft her führen, Presencing als soziale Technik von Otto C. Scharmer
TZI, Die Kunst sich selbst und eine Gruppe zu leiten - Einführung in die Themenzentrierte Interaktion von Ruth C. Cohn
Work Survive Balance von Hans Rusinek, in diesem Kontext insbesondere die Kapitel: 5 Sinn, 6 Zusammenhalt, 9 Körper
Titelbild: Erstellt mit Bing Image Creator, ChatGPT 4o